Evaluationen

Der Artikel vom Herbstinfo 2015 zur Evaluierung unseres Projektes: Child Centered Development in West Midnapur von unserem Projektpartner Seva Kendra Kalkutta

Wirkungsstudie zu 30 Jahren sozialer Arbeit mit Adivasi im West Midnapur Distrikt
(Marion Schmid/Elisabeth Kreuz)

Dreißig Jahre lang - fast genauso lang, wie es die Indienhilfe e.V. Herrsching (IH) gibt – engagieren wir uns in Adivasi-Dörfern des Distrikts West Midnapur. Die Angehörigen der indischen indigenen Völker, hier meist Santhals und die besonders diskriminierten Lodhas (Sabars), gehören zu den gesellschaftlich benachteiligsten Gruppen. Mit unserem Projektpartner Seva Kendra Calcutta (SKC), der Entwicklungsorganisation der Erzdiözese Kolkata, wurden nach und nach die Kontakte zu ca. hundert Dörfern in entlegenen Waldgebieten aufgebaut. In diesem Jahr haben wir IBRAD (Indian Institute of Bio-Social Research & Development) mit der Evaluierung der letzten sechs Projekt-Jahre beauftragt. Wir wollten wissen, inwieweit die angestrebten Ergebnisse tatsächlich erreicht worden sind, aber auch, welche Schwachstellen es im Projektansatz gab. Wir hielten die Zeit für gekommen, die Ergebnisse unserer Anstrengungen zu überprüfen und dann die Arbeit unserer beiden Partner in West Midnapur unter einem neuen Träger und mit einem überarbeiteten Konzept zu vereinen. Denn mit SKC gab es Differenzen und EVS hatte sich nach dem Tod der Gründerin Sibani Mallick (wir berichteten) trotz aller Bemühungen unseres Teams in Kolkata nicht konsolidieren können. Aus einer Folge Selbsthilfe-orientierter Einzelmaßnahmen (Erwachsenenbildung, Barfußgesundheitsarbeiter, Kleinkredite, Infrastruktur-Verbesserung durch „food for work“, Gemeinschaftsgetreidebanken) entwickelten wir mit SKC ab 2002 einen integrierten Entwicklungs-Ansatz, ab 2010 einen kindzentrierten Ansatz. Ziel der ganzheitlichen kindzentrierten Dorfentwicklung („Child Centred Development“) war es, die Lebensbedingungen der Kinder von 0 bis 18 Jahren im Hinblick auf Gesundheit, Ernährung, Bildung, Rechte und Würde zu verbessern. Es war für uns ein spannender Moment, die Evaluierung vor uns zu haben, zeigt sie doch, wie und wo unsere Arbeit erfolgreich war.

Die wichtigsten Ergebnisse in aller Kürze: Ein Grundsatz gilt für alle Projekte der IH: die Programme des indischen Staates zur Armutsbekämpfung zugänglich zu machen. Oft scheitert die Umsetzung auf dörflicher Ebene an Personalmangel und fehlendem Wissen bei der Dorfbevölkerung. Kein Wunder also, dass der sog. Samonnay Kiosk besonders gut ankam: drei Stunden wöchentlich standen in den Dörfern Dorfhelfer zur Verfügung, um über staatliche Programme zu informieren und beim Ausfüllen von Formularen und beim Stellen von Anträgen zu helfen. Die Adivasi konnten so von ihnen zustehenden Hilfsleistungen profitieren, wie Toilettenbau, Hausbau, solarbetriebenen Trinkwasserpumpen, 100-Tage-Arbeit-Programm, und ihre Rechte durchsetzen, von deren Existenz sie häufig gar nichts wissen und die oft von Dingen wie einer Geburtsurkunde, einem Behindertenausweis, der Aufnahme in die Liste von Haushalten unter der Armutsgrenze etc. abhängen. Es gab auch Trainings im sicheren Auftreten bei Behörden, Banken, Schulen – angefangen von Umgangsformen bis hin zur Sprache („wie beginne ich das Gespräch und bringe mein Anliegen vor?“). Das geschaffene Netzwerk mit staatlichen Institutionen kann das Leben der Menschen dauerhaft verbessern. Auch die Frauen der Selbsthilfegruppen sind durch regelmäßige Fortbildungen gut informiert und haben ein Netzwerk an Kontakten zu wichtigen Institutionen, ja, sie selbst kontrollieren sogar, ob diese korrekt arbeiten. Der Erfolg der Projektarbeit beruht stark auf der Basisarbeit der Dorfhelfer und –helferinnen (village animators). Sie sind selbst Dorfbewohner, haben daher einen direkten Bezug zu den Problemen vor Ort und gehören zur Gemeinschaft. Sie sind praktisch in alle Projektaktivitäten eingebunden. Neben einer regelmäßigen pädagogischen und fachbezogenen Ausbildung als Nachhilfelehrer nahmen sie an zahlreichen Schulungen teil. Sie sind das Bindeglied zwischen unserem Projektpartner und den Dorfbewohnern und informieren, beraten und stärken diese.

Die Arbeit der Dorfhelfer ist vielfältig: Sie überzeugen die Kinder, die Schule zu besuchen, und ihre tägliche Hausaufgabenbetreuung wird mit Eifer genutzt. Wenn ein Kind längere Zeit nicht zur Schule kommt, gehen sie zu den Eltern und erklären ihnen, warum die Familie dem Kreislauf der Armut nur dann entfliehen kann, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass die Familien mehr als früher für den Schulbesuch ihrer Kinder und deren Ernährung ausgeben, höhere Ziele für Schulabschluss und Beruf anstreben, darauf achten, dass die Kinder ihre Hausaufgaben machen - Mütter, die oft selbst noch Analphabeten sind, setzen sich neben das Kind, damit es sich nicht ablenken lässt, und halten es entsprechend frei von Haushalts- und Kinderarbeit. Auch die Lehrer der staatlichen Schulen sind von dem ergänzenden Bildungsangebot der Animatoren begeistert und können einen signifikanten Rückgang von Schulabbrechern verzeichnen. Aber auch die regelmäßigen Elterntreffen an den Schulen werden sehr gut von den Eltern angenommen. Eine Mutter sagte, dass sie kein Elterntreffen mehr verpassen möchte, weil ihr dadurch erst bewusst wurde, wie wichtig es ist, die schulische Entwicklung ihres Kindes im Blick zu haben. Ein erfreulicher Erfolg ist es, dass gerade die Lodha-Mütter sehr gut über Kinderrechte Bescheid wissen und häufig an den Elterntreffen teilnehmen. Küchengärten, die an Schulen und von den Müttern privat angelegt wurden, verbessern nachhaltig den Ernährungszustand der Kinder. Sie helfen, die täglichen Mahlzeiten an den Schulen und in der Familie vitamin- und nährstoffreicher zu gestalten. Nebenbei machen sich auch die Ersparnisse bei den Lebensmittelausgaben in den Familien positiv bemerkbar. Im gesamten Projektgebiet existieren inzwischen sage und schreibe 1009 solcher Küchengärten! Besonders gut wachsen in West Midnapur Auberginen, Kürbisse, Okraschoten, Limetten und verschiedene Blattgemüse, wie etwa Spinat. Für eine schonende, energiesparende und hygienische Zubereitung werden spezielle „Nutrition Camps“ angeboten. Dazu kommen die Frauen aus einem Dorf zusammen, und es wird gemeinsam unter fachkundiger Anleitung gekocht. Die Situation der Frauen im Projektgebiet hat sich deutlich verbessert. 158 Frauen-Selbsthilfegruppen (SHGs) sind dort aktiv. Als eine Art informeller Kooperativen aus jeweils 5-20 Personen aus einer Nachbarschaft mit gleich niedrigem sozialen und wirtschaftlichen Status sind die SHGs das Rückgrat jeglicher Entwicklungsarbeit in den Dörfern. Sie sparen gemeinsam, treffen sich regelmäßig, haben eine demokratische Struktur mit rotierendem Vorstand, nehmen gemeinsame Kredite zu günstigen Konditionen von den halb-staatlichen Banken mit dem Zweck, ein Einkommen zu erzielen. Die Rückzahlungsquoten sind gut. Als Graswurzelorganisationen sind sie erster Ansprechpartner für Entwicklungsaktivitäten verschiedenster Akteure. Sie sind offiziell registriert und besitzen ein eigenes Bankkonto. Das Projektteam organisiert regelmäßige Fortbildungen.

Die wirtschaftlichen Aktivitäten sind vielfältig - es gibt SHGs, die Räucherstäbchen fertigen oder Waschmittel, aber auch solche, die Körbe aus Bambus flechten, Teller aus Sal-Blättern herstellen, andere wiederum betreiben Landwirtschaft, Kleintierhaltung, Fischerei oder Anzucht von Baumsetzlingen. Wieder andere bereiten im Auftrag der Regierung das Mittagessen an Schulen zu. Wichtig ist beim SHG-Konzept auch die soziale Verantwortung, die die Gruppen übernehmen und wofür sie geschult werden: Sie kandidieren für den Gemeinderat, ergreifen Hygienemaßnahmen, wenn die Brunnen durch Überschwemmung gefährdet sind, klären in speziellen Workshops die Dorfbewohner über Hygiene auf, kämpfen gegen übermäßigen Konsum von selbstgebrannten Schnäpsen, werben für die Beteiligung an Impfkampagnen und die Einführung von Toiletten, helfen Dorfbewohnern im Krankheitsfall zu einem Arzt zu kommen. Sie leisten im Notfall finanzielle Hilfe aus ihren gemeinsamen Ersparnissen. Und auch Workshops zu heiklen Themen wie häusliche Gewalt oder Kinderheirat besuchen die Frauen, um einen langfristigen Bewusstseinswandel bei den Dorfbewohnern herbei zu führen. Frauen wenden sich häufig an die SHGs um Rat, wenn sie in Not sind und nicht mehr weiter wissen. Die SHG-Frauen sind glücklich, dass sie jetzt etwas mehr Geld verdienen, über das sie selbst verfügen können und das sie überwiegend für Ernährung, Gesundheit und Bildung ihrer Kinder ausgeben. Das Team von IBRAD kommt zu dem Schluss, dass das Projekt ein befähigendes Umfeld für die Dorfbewohner geschaffen und sie mit für sie wichtigen Regierungsstellen vernetzt hat, so dass sie ihnen zustehende Hilfen erhalten können. Die so mobilisierten Ressourcen kommen nicht von außen, sondern aus Indien selbst und sind dadurch dauerhaft und nicht von Projekten ausländischer Geldgeber abhängig. Auch Schwächen wurden aufgezeigt. Die Erfassung von Daten und Ereignissen war unzureichend, was eine spätere Auswertung der Projektwirkung erschwert (z.B. Festhalten von zu frühen Heiraten, Schulabbruch, Todesfällen unter 5 Jahren, Fällen von Unterernährung). Manche Maßnahmen wurden zur Routine ohne große Wirkung: gute Programme wie Mikroplanung auf Dorfebene wurden nicht genügend verbreitet, es fehlte an ständiger eigener Weiterentwicklung und Vernetzung mit anderen Projekten. Bei den Küchengärten und bei den Schulabbrechern wie auch beim gesunden Kochen wurde nicht konsequent genug Nachsorge betrieben. Nicht alle Dorfhelfer waren selbst genügend gebildet, um Nachhilfeunterricht über die 5. Klasse hinaus zu leisten. Die Errungenschaften, die wir durch unser Konzept in die ausgewählten Dörfer und Gebiete gebracht haben, sind offensichtlich noch nicht ausreichend.

Aber wir sind stolz darauf, welch große positive Veränderungen es insgesamt gab – mit Ihrer Hilfe, Ihren Spenden, für die wir Ihnen an dieser Stelle von Herzen danken. Wir sind unserem Ziel, der Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern ein gutes Stück näher gekommen. Diesen Absatz grau hinterlegen: Die Evaluierung macht deutlich, dass die existentielle Not der Menschen in vielen Dörfern West Midnapurs immer noch groß ist. Deshalb wollen wir mit einem neuen Partner, den wir gerade prüfen, ein neues Projekt mit weiterentwickeltem Ansatz in der gleichen Region starten, wobei die Dorfhelfer nach Möglichkeit übernommen werden sollen. Wir freuen uns über Spenden unter dem Stichwort „Adivasi“!

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